Seit ich in Offenburg wohne, bin ich gelassener, netter und aufgeschlossener. In München habe ich das nicht geschafft. Offenbar muss man nicht immer an der inneren Haltung arbeiten, um sich zu verändern. Manchmal hilft es, an den äußeren Umständen anzusetzen.
Wenn ich anfange, einen neuen Blogpost zu schreiben, kopiere ich immer ein altes Dokument. So wird im OpenOffice-Schreibprogramm gleich das Wörtergedächtnis vom alten Text übernommen und schlägt mir viele Wörter bereits nach Tippen der ersten Buchstaben vor, ohne dass ich sie ausschreiben muss. Meistens habe ich beim Kopieren des alten Artikels schon einen Arbeitstitel für den neuen im Kopf, um das duplizierte Dokument gleich entsprechend umzubenennen. Heute ist mir auf Anhieb nichts Besseres eingefallen als „Neu“. Neu.odt, so heißt nun diese Datei, in der ich meinen Text schreibe. Nicht sehr originell, auf den zweiten Blick aber sehr, sehr passend für meine derzeitige Lebensphase und am Ende auch für das, worüber ich heute schreiben werde.
Mein neues Leben
Mein neues Leben – so hätte dieser Text auch heißen können. Das war mir aber zu melodramatisch. Nichtsdestotrotz ist viel Wahres an diesem verworfenen Titel, denn es ist einfach sehr vieles neu! Ich habe einen neuen Job, wohne in einem neuen Haus (ja, wir haben nach einer ungeplanten Phase der Wohnungslosigkeit ein tolles Zuhause gefunden!) in einer neuen Stadt in einem neuen Bundesland, bin umgeben von neuen Menschen und einem neuen Dialekt, habe einen neuen (kurzen!) Arbeitsweg und entwickle neue Gewohnheiten.
Die alten Gewohnheiten, die ich in München herausgearbeitet habe, möchte ich teilweise auch wieder aufnehmen – kleine und große, zum Beispiel Meditation, Wechselduschen, morgens früher aufstehen, um noch an eigenen Projekten zu arbeiten. Eigentlich hätten die alten Gewohnheiten schon jetzt wieder genug Platz in meinem neuen Leben, aber es wurde viel Staub aufgewirbelt durch den Umzug und ich habe das Gefühl, dass er sich erst setzen muss, bis ich alles wieder klar überblicken kann. Im Moment lasse ich vieles einfach auf mich zukommen, ohne allzu kontrollierend einzugreifen. Das ist auch mal schön: Nicht so streng mit mir sein, mich treiben lassen.
Ich habe mich verändert
Mein neues Leben also. Aber bin ich auch eine „neue Silke“? So weit würde ich nicht gehen. Im Gegenteil: Ich bin hier besonders nah an meinem authentischen Selbst, so mein Gefühl. Trotzdem – oder vielmehr deshalb – habe ich Veränderungen an mir festgestellt. Ich bin gelassener, netter und aufgeschlossener. Das ist kein Gesicht, das ich aufsetze, weil ich mich hier alleine fühlen und Anschluss suchen würde – im Moment bin ich völlig zufrieden damit, Peters Freunde, Bekannte und Familie zu treffen und auf die Ferne mit meinen Lieben Kontakt zu halten und ein paar von ihnen außerdem zwischen den Jahren zu besuchen.
Dass ich gelassener, netter und aufgeschlossener bin, hat andere, vermutlich mehrere Gründe. Im neuen Job zum Beispiel bin ich erstmals für interne Kommunikation zuständig und knüpfe dafür ständig neue und möglichst nachhaltige Kontakte im Unternehmen. Sich nicht zu scheuen, auf Leute zuzugehen, ist beruflich jetzt unabdingbar. Und ich merke, dass ich diese neue Gewohnheit auch nicht ablege, sobald ich das Büro verlasse.
Ein weiterer Grund ist, dass ich mich in Offenburg nicht mit derselben Anonymität bewege wie in der Großstadt München. Ich muss hier immer damit rechnen, dass ich Leute treffe, die ich kenne oder die mich kennen. (Ein Beispiel: Als ich etwas auf Ebay Kleinanzeigen verkauft habe, hat sich der Abholer als Bekannter meines Freundes herausgestellt – und dieser Zufall hat uns beide nicht besonders verwundert). Bevor ich hierhergezogen bin, habe ich die mangelnde Anonymität als Negativpunkt empfunden. Nun bin ich froh, denn sie ermuntert mich dazu, nicht unbedingt mein schlechtestes Selbst mit aus dem Haus zu nehmen. In München war es – scheinbar – egal, wenn ich etwa in der Öffentlichkeit genervt reagiert habe, denn nur in wenigen Fällen habe ich die Leute, denen ich unterwegs begegnet bin, wiedergesehen. Das heißt nicht, dass ich immer nur geputzt und gestriegelt aus dem Haus gehe, ich meine damit ausschließlich die innere Haltung.
Und letztlich bin ich auch gelassener, netter und aufgeschlossener, weil ich mich einfach danach fühle! Diesen Kokon, der manchmal auch eher einer Mauer geglichen hat, den ich in München oft schützend um mich gebaut hatte, brauche ich hier kaum. Das liegt vor allem daran, dass mich das Leben hier weniger Energie kostet. Klar, ein neuer Job, die Nachwehen des Umzugs oder das Einleben in einer neuen Stadt sind anstrengend. Aber diese Anstrengungen geben einem auch viel zurück, wenn sie befriedigende Ergebnisse hinterlassen. Gleichzeitig wohne ich ruhig und ländlich, was mir Energie gibt, und bin mit dem Bus trotzdem in zehn Minuten in der Stadt.
Übervoll, überfordert, wütend
In München war ich dagegen oft gestresst. Abends hatte ich – vor allem wegen des sehr langen Pendelwegs von insgesamt zweieinhalb Stunden pro Tag – keine Energie mehr für irgendwas. Es gab mehr als einmal die Situation, dass ich, wenn mich mein Freund abends begrüßt hat, in Tränen ausgebrochen bin. Weil ich so übervoll war mit Input. Weil ich so gestresst war. Weil ich überfordert war.
Meine Überforderung hat sich allerdings nicht nur in Form von Tränen aus meinem Körper gebahnt, sondern auch in Form von Wut. In ihrer Reinform ist sie vor allem beim Radfahren zutage getreten. Meistens bin ich die Hälfte meines Pendelwegs mit dem Rad gefahren, morgens zum Bus, abends vom Bus nach Hause. Während der Fahrt gab es eigentlich immer etwas zum Aufregen. Und wenn mich andere beim Radeln über Münchens Straßen auch noch in für mich untolerierbarem Maße behindert hatten oder aber fast überfahren (leider wird man aufgrund des vielen Verkehrs dort häufig mal von Autofahrern übersehen), gab mir das den Rest.
Jahrelang habe ich an mir gearbeitet, habe nach Lösungen gesucht, um mein Frustrations- und Wutlevel im Allgemeinen und während des morgendlichen und abendlichen Radfahrens im Speziellen zu mindern. Ich konnte auch Fortschritte verzeichnen. Beim Radeln wurde ich innerlich ruhiger, indem ich einfach mein buchstäbliches Tempo gedrosselt habe. Erstens, weil mich die selbst auferlegte Eile automatisch gestresst hat. Zweitens weil der dabei erhöhte Puls das Rutschen ins Wutlevel, das ja ebenfalls mit erhöhtem Puls einhergeht, offenbar erleichtert hat. Das ist zumindest meine Erfahrung.
Die abendliche Verzweiflung kam trotzdem weiterhin vor. Und wenn auch nicht immer Tränen flossen, am Ende des Tages überfordert, frustriert, müde, energieleer und gestresst zu sein, war an der Tagesordnung.
Umfassend und endgültig habe ich mein Aggressionspotenzial beim Radfahren nie in den Griff bekommen. Ich schäme mich, das zu schreiben, aber will auch ehrlich sein: Ich habe andere Verkehrsteilnehmer angeschnauzt und oft sogar beleidigt. Manchmal ganz offen – dass das Zusammentreffen durch beidseitiges Weiterfahren gleich wieder vorbei war, hat das Ganze vereinfacht –, manchmal auch nur still für mich.
Das hat mich noch mehr frustriert, weil ich mir immer bewusst war, dass ich mich in Grund und Boden schämen würde, wenn mich bei diesem Verhalten jemand erwischte, den ich kenne (aber „zum Glück“ war das in München ja eher unwahrscheinlich). Auch frustrierend, da ich ja weiß und merke, wie schlecht Wut für Körper und Seele ist. Wie sehr sie mich von meinem idealen Seinszustand (ruhig, gelassen, fröhlich, zufrieden) entfernt. Bis zum Schluss meiner Zeit in München war es ein ungelöstes Rätsel: Was kann ich tun, damit sich das ändert? Vor allem: Wie kann ich mich ändern?
Manchmal braucht es äußere Veränderungen, um sich selbst zu ändern
Wir leben in einer Zeit, wo propagiert wird, dass Veränderungen bei einem selber ansetzen sollten. Dass man also sich selber ändern muss, um einen erwünschten Zustand herbeizuführen. Und das stimmt sicher auch in vielen Fällen. Vor Jahren beispielsweise habe ich mit dem Meditieren angefangen – und es hilft und tut gut. Und seit jeher lese ich neben Romanen am liebsten Self-Help-Ratgeber. Ich hatte das Mantra „Wenn sich etwas verändern soll, musst du dich selbst verändern“ so verinnerlicht, dass es mich überrascht hat, zu merken: Manchmal braucht es vor allem äußere Veränderungen.
Denn der wichtigste Grund, warum bin ich jetzt gelassener, netter und aufgeschlossener bin, ist: Weil ich mehr Energie dafür habe! Warum ich gar so gelassen bin, dass ich mich in meinen fast zwei Monaten hier bisher nur zweimal während des Radelns über andere aufgeregt habe: Weil es hier viel weniger Verkehr gibt. Weil ich einen viel kürzeren Weg zur Arbeit habe. Weil ich diesen kürzeren Weg in vollen Zügen genieße und wieder merke, wie viel Spaß mir Radfahren macht. Weil ich mir den Weg nicht mit so vielen Radfahrern teilen muss, die ihr eigenes Vorankommen oft auf rücksichtslose Weise über die Sicherheit anderer stellen. Weil die Autofahrer in einer kleinen Stadt nicht total genervt von Radfahrern sind und eher auf sie Acht geben.
Radfahren fungiert nur als Pars pro toto, ein Teil, das fürs Ganze steht. Egal ob beim Einkaufen, Busfahren oder Spazierengehen: Ich lächle viel, bin hilfsbereit und lasse mir auch gerne helfen. Es ist schön. Ich brauche dabei nicht um meine Energie fürchten, denn ich habe hier genug davon. Natürlich bin ich auch mal schlecht drauf, frustriert und habe keine Energie – zuletzt zum Beispiel, weil ich krank war. Aber weil mein neues Leben weniger laut ist, ich mehr Zeit und Freiheit habe, sind solche Zustände, was sie sein sollen: Ausnahmen.
Ja, Veränderungen sollte man auch im Innen suchen und ja, man muss oft an sich selber arbeiten, um sich zu ändern. Aber nicht alles kann man nur durch An-Sich-Arbeiten verändern. Manchmal muss man auch die äußeren Umstände so gestalten, dass sie einem den Raum geben, zu dem Menschen zu werden, der man gerne sein will.
Bis bald,
Deine Silke
Live lightly, consume mindfully.
Meine Tipps für heute:
Ein kleines Experiment: Schau jedem Menschen, dem Du heute begegnest, ins Gesicht und lächle freundlich.
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